Geht es um die Darstellung moralisch fragwürdiger Handlungen und Einstellungen, heißt es oft: Die Meinung der Figuren ist nicht die Meinung der Autor:in. Das ist absolut richtig. Doch das bedeutet nicht, dass der Text die Haltung der Autor:in nicht transportiert. Dieser Artikel soll zeigen, warum die Distanzierung von problematischen Mustern nicht so einfach ist.
Die Figuren aus "Das Licht aus dem Nebel" sind nicht unbedingt sympathisch – schließlich handeln sie allesamt nicht gerade moralisch korrekt. Sie sind selbstsüchtig, in erster Linie am Ausbau ihrer eigenen Macht interessiert und dafür durchaus bereit, zu Gewalt zu greifen und über Leichen zu gehen.
Nun scheinen einige Intrigen am Schluss von "Das Licht aus dem Nebel" durchaus aufzugehen – die meisten Charaktere haben bekommen, was sie wollten. Und genau das ist der Grund, warum die Geschichte damit nicht zu Ende ist, sondern ein zweiter und ein dritter Band folgen. Denn wäre sie zu Ende, was würde das bedeuten? Dass schlechte Taten zu Glück und Erfolg führen? Das wäre nun wirklich keine Botschaft, die ich in meinen Texten transportieren möchte.
Ohne zu viel zu spoilern kann ich deswegen sagen, dass es bei diesem "Happy End" nicht bleiben wird – und auch nicht bleiben darf. Denn als Autorin habe ich in der Hand, welche Geschichte ich erzählen möchte: Eine, in der die "Bösen" gewinnen oder eine, in der sie schließlich scheitern. Der Weg der Figuren muss deswegen nach und nach immer weiter in Richtung Abgrund führen.
Inwiefern steht eine Autor:in für ihren Text?
Wer glaubt, anhand der Figurenrede simpel die persönlichen Einstellungen der Autor:in ablesen zu können, irrt. Auch wer denkt, in Romanen wären immer Ereignisse aus dem Leben der Verfasser:in verarbeitet, ist nur zu oft auf dem Holzweg. Als Autorin werde ich oft mit solchen Vorurteilen konfrontiert. Ich muss mir Spekulationen anhören, was wohl in meinem Kopf vorgeht und wie verrückt man sein müsse, um derartige Texte zu schreiben. Solche Schlussfolgerungen haben in unserer Gesellschaft Tradition – die Idee, dass Genie und Wahnsinn eng miteinander verknüpft sind, ist alt. Doch tatsächlich sind die wenigsten Texte so einfach interpretierbar, wie es viele Rezipient:innen gerne hätten – schon gar nicht, wenn es um die persönlichen Einstellungen der Autor:innen geht.
Nun gibt es natürlich auch das andere Extrem: Die Annahme, ein Text könne unabhängig von der Verfasser:in für sich stehen und jede geschriebene Zeile sei als rein künstlerisch zu betrachten, ohne Aussage für bestimmte politische, gesellschaftliche, ethische Haltungen. Auch dieser Ansatz macht es sich in meinen Augen bei weitem zu einfach. Denn letztlich entspringt jeder Text einem subjektiven Empfinden und spiegelt damit mal mehr mal weniger die Haltung seiner Verfasser:in wider. Wer schreibt, tritt mit den eigenen Einstellungen unweigerlich an die Öffentlichkeit. Es ist deswegen von Vorteil, sich selbst mit der Aussage der eigenen Texte auseinander zu setzen und sich zu fragen: Was genau schreibe ich da eigentlich? Und ist das, was ich schreibe, auch das, was ich aussagen möchte?
Sich der eigenen Haltung bewusst werden
Werde ich gefragt, wie viel von mir in meinen Romanfiguren steckt, muss ich antworten: sehr wenig. Natürlich schreibe ich über Einstellungen und Temperamente, die mich persönlich interessieren, und insofern ist da immer ein Stückchen von mir. Aber ich identifiziere mich mit keiner meiner Figuren und mein Umfeld tut das, was mich betrifft, – zum Glück – auch nicht. Wenn meine Charaktere also klare moralische Positionen einnehmen und Aussagen treffen, dann decken sich diese nicht automatisch mit meinen eigenen Einstellungen. Doch es gibt sie im Text dennoch, meine Einstellungen.
Wer immer einen Text verfasst, tut das aus einer bestimmten Haltung heraus. Bei stark moralisierenden Texten wie Märchen oder Fabeln ist das offensichtlich – wir sprechen dann gerne vom berüchtigten Holzhammer. Werden die Figuren eindeutig als "gut" oder als "böse" bewertet , ist klar, wie die Haltung der Verfasser:in dazu ist und welches Verständnis der beiden Kategorien sie in die Geschichte einfließen lässt.
Nehmen wir als prominentes Beispiel gerne "Harry Potter": Es steht außer Frage, dass Harry in der Geschichte der Gute und Voldemort der Böse ist. Harry handelt über die sieben Bände hinweg deshalb auch weitgehend gut (hin und wieder kleine Schwächen darf es natürlich geben) und Voldemort böse. Wir dürfen jedenfalls davon ausgehen, dass die Verfasserin der Buchreihe die dargestellten Ereignisse entsprechend bewerten wollte: dass Liebe und Freundschaft moralische Werte, dass Gewalt und Rassismus wiederum zu verurteilen sind.
Genauso ist auch in "Herr der Ringe" unzweifelhaft, dass Frodo (trotz des zunehmend schwächer werdenden Widerstandes gegen die Verlockungen des
Ringes) der Gute und Sauron der Böse ist. Wir erfahren unmissverständlich, dass der Autor es nicht für in Ordnung hält, die Völker Mittelerdes zu unterjochen. Wo er jedoch eine wenig differenzierte Haltung vertritt, ist in Bezug auf ethnische Zuschreibung: Die Orks als Volk sind quasi per Genetik böse – eine Aussage, der moderne Rezipient:innen durchaus kritisch gegenüberstehen dürften. Tolkien war da sicherlich ein Kind seiner Zeit. Nichtsdestotrotz – und damit greife ich ein wenig vor – ist es eine persönliche Haltung, die im Text zutage tritt.
Bewegen wir uns von diesen Beispielen weg, gibt es inzwischen viele Texte, in denen die Charaktere ambivalent handeln, das Setting düster ist, die Figuren vielleicht sogar nach verbreiteten gesellschaftlichen Ansichten eher böse als gut sind. Was sagen solche Texte eigentlich aus? Nun, das kommt darauf an. Und zwar darauf, wie der Text mit solchen Figuren umgeht. Metzeln sie sich einfach durch hunderte von Seiten, ohne dass etwas passiert? Überlisten sie ihre Widersacher und winden sich aus jeder Verantwortung? Erreichen sie mit ihren Taten persönliches Glück und Wohlstand? Dann würde ich sagen, der Text kokettiert durchaus mit dem Bösen. Vielleicht verherrlicht er es sogar. Die Haltung, aus der heraus die Autor:in einen solchen Text verfasst, ist höchstwahrscheinlich nicht sonderlich kritisch, vielleicht neutral, vielleicht in gewisser Weise sogar wohlwollend (um das umfangreich beurteilen zu können, ist es aber natürlich notwendig, sich den ganzen Text genau anzusehen). Denn wollte sie demaskieren und kritisieren hätte sie den Roman anders geschrieben, nicht wahr? Dann hätten verwerfliche Taten Konsequenzen.
Was bringt die Darstellung von Gewalt?
Dass Gewalt in der Realität in der Regel besser zu vermeiden ist, da dürften sich die meisten einig sein. In vielen Büchern und auch Filmen scheinen entsprechende ausschweifende Darstellungen jedoch immer mehr zum guten Ton zu gehören. Und hier gilt dasselbe wie für die handelnden Figuren: Die Textintention ändert sich grundlegend, je nachdem wie die Gewalt geschildert und mit ihren Folgen umgegangen wird. Wird sie zelebriert? Wird sie verherrlicht? Wird sie deshalb so breit ausgebreitet, weil sie schocken und aufrütteln soll? Das ist natürlich ein Argument, ich persönlich finde es jedoch ziemlich schwach. Denn wozu schocken? Inwiefern aufrütteln? Es ist doch keine neue Erkenntnis, dass Gewalt negative bis hin zu traumatisierenden Folgen haben kann – wozu muss das überbetont werden? Oder ist die Gewaltdarstellung einfach ein Kunstgriff? Dient sie als Verfremdungselement? Auch das Kunst-Argument ist in meinen Augen fragwürdig. Denn was sagt es über eine Künstler:in aus, wenn ihr kreativster Akt abschreckende Darstellungen oder sagen wir ruhig billige Schocker sind?
Auch in meiner Romanreihe gibt es Gewalt. Natürlich, die Figuren sind grausam und sie führen Kriege. Ich habe mich dafür entschieden, Gewalt breiter zu thematisieren, weil ich nicht verharmlosen wollte, was da an manchen Stellen passiert – das würde diesen schwierigen Themen nicht gerecht werden. Ebenso wenig wollte ich die düsteren Aspekte jedoch zelebrieren und habe deshalb auf ausführliche Beschreibungen verzichtet. Manchmal ist das, was nicht gesagt wird, ohnehin schlimmer. Es gibt deshalb nirgendwo detaillierte Darstellungen von herausquellenden Eingeweiden und es gibt auch keine besonders kreativen Morde und Foltermethoden. Wozu? Meine Kreativität wollte ich mir für Anderes vorbehalten.
Wie funktioniert das in Romanen?
Wie ein gelungener Umgang mit unmoralischen und gewalttätigen Charakteren gelingen kann, zeige ich anhand einer Buchreihe, in der es durchaus brutal zugeht – und die es trotzdem schafft, fragwürdige ethische Einstellungen sinnvoll zu einzubetten.
Die Klingen-Romane von Joe Abercrombie gelten als "Grimdark": Es gibt Gewalt, Blut, eine schmutzige Welt und die Figuren stehen nicht unbedingt auf der hellen Seite. Sie sind dabei keineswegs durchweg "böse", aber auf einer Skala von Weiß bis Schwarz vielleicht eher im dunkleren Bereich. Dennoch sind sie die Protagonist:innen und tragen die gesamte Handlung voran. Als Leserin beschäftige ich mich also durchgängig mit fragwürdigen Wertvorstellungen. Vordergründig bewertet der Text diese nicht negativ, schließlich steht nirgendwo ausdrücklich: "Diese Einstellung ist eigentlich echt nicht okay!". Indirekt bewertet das Buch aber doch. Denn (leichter Spoiler): das Ganze wird nicht gut ausgehen. Die Figuren scheitern, manchmal vordergründig, manchmal subtiler. Denn selbst wenn sie am Ende doch zu Macht und Einfluss kommen, gibt es immer etwas, das sie nicht erreichen: Frieden und individuelles Glück. Und genau das ist eine Haltung, die der Text einnimmt: dass solche Einstellungen letztlich immer Konsequenzen haben und diese nicht unbedingt erstrebenswert sind.
Und die Gewalt? Ja, auch die gibt. Müsste sie sein? Was muss schon. Es ist aber festzuhalten, dass sie hier eine ganz bestimmte Funktion erfüllt: Ähnlich wie die zynischen Aussagen, die den Text prägen, der Sarkasmus, die Ironie, dient auch die Gewalt im Text dazu, die dargestellte Welt zu entzaubern – und im Rückschluss sicherlich auch die Realität außerhalb des Romans. Viele Texte, vor allem im Genrebereich, zeigen die Wirklichkeit durch eine rosarote Brille verzerrt. Dagegen wenden sich diese Romane. Gewaltdarstellungen dienen hier also nicht dem Showeffekt, sondern verfolgen eine klare Intention.
Demgegenüber stelle ich nun einen sehr populären Text, der in meinen Augen aber nicht gut mit solchen Themen umgeht. Auch "Das Lied von Eis und Feuer" alias "Game of Thrones" ist berühmt für die harte, brutale Welt und moralisch fragwürdige Figuren. Es wird auch hier gerne von "ambivalenten Charakteren" gesprochen. Tatsächlich sind viele jedoch eben nicht ambivalent, sondern doch recht klar als gut oder böse ausgewiesen. Figuren wie Eddard Stark oder Jon Snow mögen schwierige Entscheidungen treffen, sie sind jedoch immer die Guten. Joffrey Baratheon oder Ramsay Bolton sind durchgängig widerwärtige Sadisten. Gute Eigenschaften sind an ihnen überhaupt nicht zu entdecken. Es gibt hier also Gut und Böse – und das Vorhandensein dieser Kategorien stellt sie in gewisser Weise auch auf den Prüfstand.
Natürlich darf eine gute Figur auch einmal Schlechtes tun. Wir erwarten dann jedoch eine Reflexion dieses Verhaltens, eine Läuterung. Eine solche findet jedoch oftmals nicht statt – und da liegt das Problem.
Dazu ein Beispiel: Im Buch heißt es sinngemäß, dass Jon Snow nur deshalb nicht zu Prostituierten geht, weil er keinen Bastard zeugen möchte. Nun, das ist ein guter Grund. Aber dass in der dargestellten Welt Frauen systematisch missbraucht werden und er als moralischer Held daran nicht teilhaben will, ist keiner? Die im Roman gezeigte Gesellschaftsstruktur ist zutiefst patriarchal und damit oftmals frauenverachtend – da brauchen wir uns doch nicht vormachen, dass die Prostituierten aus freiem Willen in Bordellen arbeiten (wenn ich mich recht erinnere, wird Menschenhandel in diesem Zusammenhang sogar erwähnt). Dass sie dort systematisch vergewaltigt werden, wird jedoch nirgendwo thematisiert oder auch nur ansatzweise problematisiert bzw. reflektiert. Die Haltung, die der Text durch sein Schweigen zu dieser Thematik bezieht, ist damit also: Ist schon in Ordnung so. (Nochmal: Würden nur die bösen Figuren in Bordelle gehen, wäre die Message eine vollkommen andere!) Für mich ein No-Go.
Dazu passt sehr gut ein anderer Handlungsstrang, in dem sich eine gewisse Figur schließlich in ihren Vergewaltiger verliebt. Auch hier: Es ist nicht die Tatsache, dass diese Figur derartige Gefühle entwickelt, die problematisch ist, sondern die Art und Weise, wie der Text damit umgeht. Würde der Text zeigen, dass diese Einstellung nicht gut für die Figur ist und würde sie sie später überwinden, wäre die Botschaft von Grund auf anders. Hier wird diese "Liebe" aber romantisiert. Das ist nicht nur eine Verharmlosung von sexualisierter Gewalt, sondern auch ein Frauenbild, bei dem es mir die Zehennägel hochrollt. Inwiefern Beziehung und Romantik in der Literatur oft problematisch dargestellt werden, beschreibe ich übrigens auch hier: https://www.kornelia-schmid.de/post/das-problem-mit-der-liebe-beziehungen-schreiben.
Die Gewaltdarstellungen im Text sind des Weiteren ausufernd und explizit. Aber welche Funktion verfolgen sie? Ich kann nur erkennen, dass sie dazu dienen, die Leser:innen zu schocken. Und ist das nicht auch eine Verharmlosung? Gewalt dient dabei schließlich nur noch dazu, die Rezipient:innen erschaudern zu lassen, und dann ist wieder alles vorbei und unwichtig und es geht weiter im Programm. Für Menschen, die tatsächlich derartige Erfahrungen machen mussten, dürfte das mehr als nur ein Schlag ins Gesicht sein.
"Das Lied von Eis und Feuer" hat, natürlich auch durch die populäre Serienumsetzung, das Genre extrem geprägt. Plötzlich durften Protagonist:innen sterben. Auch andere bis dato vorherrschende Tabus wurden gebrochen. In gewisser Weise hat das Genre davon profitiert, denn es wurde auf diese Weise erneuert oder auch erweitert – mit dem Eskapismus in der Fantasy ist es spätestens an dieser Stelle vorbei. Die Gewaltdarstellungen fügen sich sicher in diese Intention. Hier gilt also dasselbe wie bei "Herr der Ringe": Bestimmte Diskurse sind vor dem Hintergrund ihrer Entstehungszeit anders zu bewerten als im Nachhinein. Dennoch sollte man nicht einfach darüber hinweggehen. Eine kritische Haltung bei der Rezeption ist für mich immer unverzichtbar.
Sensibler Umgang mit problematischen Themen
Unsere Gesellschaft ist sensibler geworden: Während früher in vielen Büchern, Filmen und Serien Sexismus, Rassismus, Homophobie, Ableismus etc. an der Tagesordnung standen, werden entsprechende Darstellungen heute mehr hinterfragt. Dass gleichzeitig aber Gewalt viel stärker gezeigt wird, mag widersprüchlich erscheinen, ist jedoch vielleicht ein Versuch, Geschichten näher an die Realität heranzurücken. Wer einen Text veröffentlicht, sollte sich definitiv dessen bewusst sein, welche Botschaften dieser transportiert. Es ist zum Beispiel überhaupt kein Problem, eine rassistische Figur einzubauen und diese widerwärtige Parolen klopfen zu lassen – die Frage dabei ist nur, wie der Text letztlich mit dieser Figur umgeht. Kommt sie damit durch oder rennt sie mit Anlauf gegen eine Wand? Reflektiert der Text ihre Einstellungen? Hat ihr Handeln Konsequenzen?
Um zu erkennen, ob ein Text problematische Darstellungen transportiert, braucht es nicht automatisch ein Sensitivity Reading, doch sicherlich kann es helfen, Diskurse sichtbar zu machen, die der Verfasser:in vielleicht gar nicht bewusst sind. Das bedeutet natürlich keineswegs, dass nun alle Texte von bestimmten gesellschaftlichen Fallstricken bereinigt werden sollten. Im Gegenteil gilt das, was ich auch an anderen Stellen schon oft gesagt und geschrieben habe: Wichtig ist lediglich, dass ihr wisst, was ihr tut und dahinterstehen könnt.
Comentários